DR. STEFANIE DATHE

Sachgemäß

Thomas Raschke ist notorischer Universalist. Geduldig und ausdauernd lötet, klebt, schnei-det, biegt und bastelt er Flugzeuge, Luftschiffe, Raketen, U-Boot und Panzer, Gelddruckma-schine, Traktor, Renn- und Polizeiauto, Bohrinsel und Kirche, Burgen, Wohnzimmer und Topfpflanzen und Devotionalien, Radio, Tauchsieder, Waschmaschine, Kühlschrank und Staubsauger, Tische, Stühle, Lampen und vieles mehr. Das ganze Universum der Gegen-ständlichkeit dient ihm als motivisches Reservoir und unerschöpfliche Inspirationsquelle zur Entwicklung seiner wand- und raumbezogenen Groß- und Kleinobjekte. Grenzenlos er-scheint auch die eingesetzte Materialvielfalt: Natürliche und synthetische Rohstoffe, Pappe, Pappmaché, Gips, Beton und Gummi, Styrodur und Styrofoam, Eisendraht, Aluminium, Stahl, Holz, Keramik, Papier und Wachs kennzeichnen einen künstlerischen Schaffenspro-zess, der die traditionellen Grundsätze der Bildhauerei aus den Angeln hebt, der sich jegli-cher hehren Materialgerechtigkeit und –ethik entledigt, der den Werkstoff von Anschauungs-normen befreit und als Mittel zum Zweck erklärt, um zugleich die Regeln der Produktion und das Abbildens zu untersuchen.

Im experimentellen Ausdruck spielt die Frage nach dem beständigen und kostbaren Material keine Rolle mehr. Thomas Raschke bemächtigt sich in scheinbar spielerischer Beliebigkeit einem ganzen Arsenal willfähriger Produkte der Wegwerf- und Verpackungsindustrie, die sich seiner gestalterischen Schaffenskraft leichtläufig unterordnen. Die minderwertigen Billig-stoffe der Massenkultur werden hier nicht zum Feindbild eines engagierten Ästheten; ihre Tendenz zu Vergänglichkeit und Anonymität wird nicht zur Charakterlosigkeit und zum bild-hauerischen Sündenfall ernannt. Im Gegenteil, gezielt nutzt der Künstler die spezifischen Ausdruckswerte, die haptischen und optischen Qualitäten der Materialien zur Konstruktion unverwechselbarer Objekte, die über sich selbst und das Handwerkliche hinausweisen und die unterschiedlichsten Empfindungen am sinnlich-geistigen Horizont entwickeln. Thomas Raschke löst die Stoffe aus der Banalität ihres funktionalen Systems und erklärt sie zu Ver-bündeten in einer Kunst, welche die der industriellen Produktionsweise innewohnende Logik völlig namenloser Serienfertigung konterkariert.

Heute wird jeder Gegenstand unter dem Aspekt seiner Reproduzierbarkeit gedacht und ent-worfen. Wichtiger als der unmittelbare Gebrauchswert erscheint die kostengünstige Effektivi-tät des Produktes, seine rasche und permanente Wiederholbarkeit. Thomas Raschkes In-neneinrichtungen, seine Flug- und Fahrzeuge sind weder rasch noch überhaupt wiederhol-bare Unikate. Pappe, Hartschaum oder Eisendraht nehmen den Bombern, Sportflitzern und Möbelstücken ihre physikalische Schwere und verwandeln sie in leichte, transportable Proto-typen aus einer Welt der Miniaturen, welche das kindliche Vergnügen am unbeschwerten Spiel heraufbeschwört. Es sind artifizielle Konstrukte, hybride Versuchsobjekte und Attrap-pen, mit denen der Künstler die Verunsicherung im Übergang vom wirklichen Raum in den imaginativ-fiktionalen Raum der plastischen Modelle erprobt. Vordergründig erscheinen die körperlosen Drahtgebilde und unbemannten, fahruntüchtigen Fortbewegungsmittel als Ma-quetten oder spleenige Tüfteleien eines Hobbybastlers. Herausgerissen aus ihrem instru-mentalen Kontext und hineingestellt in die hermetische Abgeschiedenheit des musealen Raumes, offenbaren sie trotz aller strukturellen Analogien mit der Gegenständlichkeit ihre künstlerische Autonomie. Als zweckfreie ästhetische Ideengebilde, als Modelle zwischen räumlicher Zeichnung, Spielzeug und Identifikationsobjekt befragen sie die Abbildfunktion von Skulptur und die Konditionierung unserer Wahrnehmung.

Im Zeitalter der virtual reality hat sich die mimetische, nachahmende Illusion zur Simulation und zum Weltersatz gesteigert. Schon vor zwanzig Jahren hat Jean Baudrillard das Ende einer Kunst vorhergesagt, die sich im Namen neuer Medientechnologien dem Willen zur Identität mit der Wirklichkeit unterwirft . Auch, wenn sich seine Prognose nicht bewahrheitet hat, untersuchen die Künstler der Zweiten Moderne , welche Strategien die Gegenwarts-kunst entwickeln muss, um ihre lähmend gewordenen Praktiken zu unterlaufen.

Thomas Raschke wirbt für eine „Ästhetik der Verführung“ , für ein bewusstes Propagieren des Scheins. Ihn interessiert das Wechselverhältnis von Realität und Fiktion, Gegenständ-lichkeit und Abstraktion, nicht die gattungsgerechte Trennung von angewandter und bilden-der Kunst. „Mehr Schaumschneider als Bildhauer, hält er vor allem ein ironisches Plädoyer der Enthaltsamkeit gegenüber den Trendmedien... .“ Seine Modell- und Drahtbaukunst si-muliert nutzbringende Verwendbarkeit. Doch aller abbildhaften Gegenständlichkeit zum Trotz folgt die Dramaturgie der Inszenierung stets den Regeln der Phantasie.

Wo Marcel Duchamps den seriellen Gebrauchsgegenstand als deklariertes Ready-made zum interesselosen Kunstwerk erhebt, da bekennt sich Thomas Raschke zu einer neuen Handwerklichkeit, zum konstruierten Ready-made mit autobiographischer Note. Seine Kunst entwickelt sich aus Ge- und Erfundenem. Durch die materielle, formale und proportionale Verfremdung nimmt Thomas Raschke den niederen Dingen der Alltagskultur ihre vertraute Tatsächlichkeit. Er will sie als mehrdeutig zeitkritische, ironisch humorvolle und dadaistisch karikierende Zeichen verstanden wissen, deren Spielwarencharakter sachliche Distanz ga-rantiert und deren erzählerische Inhalte über die Gebrauchsdeutung hinaus überraschend affektive und absurde Dimensionen eröffnen. So zeigt „Meine erste kleine Videoarbeit“ kein filmisches Material, sondern ein aus Isolierschaum geschnitztes Mini-Interieur mit Stuhlrei-hen und Fernseher. „Essen auf Rädern“ serviert Thomas Raschke als Brotlaib auf den Rad-achsen eines Skateboards. Und die „wire frames“ , diese maßstabsgetreuen Umrißzeich-nungen aus Eisendraht, greifen auf irritierende Weise die Netzstruktur computergenerierter Zeichnungen auf. Die virtuelle Rotation am Bildschirm, welche jenen Gitterstrukturen erst zur dreidimensionalen Erscheinung verhilft, wird hier von der Bewegung des Betrachters über-nommen, dem die Aufgabe zufällt, in der räumlichen Begehung die Objekte ins Plastische zu übersetzen.

Im Ausstellungskontext werden Thomas Raschkes Versuchsobjekte zu Kristallen ineinander-fließender Erinnerungsströme. Erlebnisse, Tagträume und Lebensgefühle aus den Vorstel-lungsräumen von Produzent und Rezipient, von Kind und Erwachsenem verdichten sich zu einem assoziationsreichen Beziehungsgeflecht aus Kunst, Kitsch, Souvenir und Spielzeug. Erinnerung wird hier zum Schlüssel von Identität - einer Identität, die sich auch über Alltags-maschinen wie das Automobil definiert.

Für uns ist das Kraftfahrzeug eine quasi-natürliche Umgebungstatsache, die uns Nutzen, Vergnügen und Frust bereitet, „... die von intensiven individuellen und kollektiven Gefühlen begleitet wird,... nicht von Rationalität und Pragmatismus... .“ Es sind die Paradoxien und Ambivalenzen in unserem mythischen Verhältnis zum rasenden Körper mit Motor und Rä-dern, an die Thomas Raschkes Kunst anknüpft. Aus Pappe, Beton oder Lebensmitteln ge-baut, vereiteln seine Prototypen die Illusion von Geschwindigkeit in einem stromlinienförmi-gen, hochglanzpolierten Kraftapparat, welcher die menschliche Eigenbeweglichkeit zwar multipliziert, die Mobilitätswünsche unserer Gesellschaft jedoch nicht uneingeschränkt erfüllen kann.



DR. RALF CHRISTOFORI

Mr. Bessières, lieber Thomas Raschke, meine Damen und Herren,

mir wurde die Aufgabe übertragen, ein paar Gedanken zu dieser Ausstellung zu äußern, Gedanken, die Ihnen plausibel erscheinen sollen - nicht, was die Gedanken für sich anbelangt, sondern natürlich die Kunst des Thomas Raschke. Raschke, die meisten von Ihnen werden es wissen, gehört zum Kern der Künstlergruppe "Das Deutsche Handwerk", zu den Köpfen eines kreativen Gefüges, das ebenso ernsthaft und eloquent wie zynisch-ironisch jenen Mythen nachspürt, die Kunst und Leben gleichermaßen bereithalten. Es sind Mythen, denen man als Außenstehender nicht über den Weg trauen sollte, denen man als Betrachter mißtrauen, als Denker skeptisch begegnen muß. Daß diese Mythen von Kunst und Leben einer eigenen Logik folgen, wissen wir spätestens seit Roland Barthes. In einem großartigen Buch, das in der deutschen Übersetzung "Mythen des Alltags" heißt, hat der Franzose den Mythos als ein eigenes semiologisches System beschrieben: als das Mißverständnis einer "falschen Augenscheinlichkeit", wie es Barthes beschreibt, das verführt, vereinfacht, Sachverhalte behauptet, Bedeutungen unterläuft, Gegenstände adelt. Oder schlimmer noch: Der Mythos macht sich die zum Einfachen tendierende Anschauungs- und Denkungsart des Menschen zu nutze. Das hat zur Folge, daß wir, sobald wir dem Mythos glauben, ihm schon auf den Leim gegangen sind.

In diesem Sinne also: "Vorsicht vor dem 'Deutschen Handwerk'! Und Vorsicht vor Raschke als Solisten!" - mahnt der Einführungsredner und zieht den erhobenen Zeigefinger gleich wieder zurück, denn er weiß, daß er sich nur lächerlich macht, weil er nur einen weiteren Mythos zu etablieren droht. Während der Künstler schmunzelt - zynisch-ironisch, ernsthaft und eloquent - schwitzt der Redner, um Worte ringend, wie sich das, was Sie hier sehen, angemessen beschreiben ließe. Zum Beispiel: Ich sage Ihnen, daß Sie eine Ansammlung von Haushaltsgegenständen aufgereiht sehen, Waschmaschine und Wäschetrockner, Eimer und Schnellkochtopf, einen Spültisch und eine Neonlampe usw. Umgekehrt aber sehen Sie diese Dinge natürlich nicht. Sie sehen lediglich eine Hülle oder einen Umriß, eine - wie es Architekten und andere Entwerfer sagen würden - Axonometrie der Waschmaschine vor der weißen Wand. Daß Sie glauben, diese Dinge als solche identifizieren und benennen zu können, hat in erster Linie mit Ihren eigenen Mythen zu tun, die Sie mit hierherbringen, dankbar abrufen und an den Gegenständen erfolgreich verifizieren. Das ist die Falle des Mythos: reintappen, zuschnappen - und dann versuchen Sie mal, da wieder rauszukommen ...

Natürlich können Sie diese Mythen nicht einfach hier an der Garderobe abgeben, und es dürfte auch nichts bringen, den berühmten Satz zu beherzigen: "Jetzt stellen wir uns alle mal janz domm". Vielleicht aber gelingt der ernsthafte Versuch, sich gewissermaßen über ganz ernsthafte und ehrliche Kategorien von hinten an die Arbeit Thomas Raschkes heranzuschleichen, also gewissermaßen an der Falle des Mythos vorbei, ihre Logik durchschaut, bevor sie überhaupt zuschnappen kann. Die ehrlichen Kategorien sollen sein: die verschiedenen Seinszustände, die Thomas Raschkes Arbeit generell und hier in der Ausstellung durchläuft. Und zwar zwei-, drei- und vierdimensional. Hier die Fläche, da der Raum, dort die Zeit. Ich werde versuchen, stets alle Dimensionen im Blick zu behalten, denn bei Raschke geht man immer einer der Dimensionen auf den Leim, sobald man die anderen aus dem Auge zu verlieren droht. Auch das eine List des Mythos.

Also zunächst a) die zweidimensionale Fläche. An den Fensterwänden hier rechts und in der Apsis vorne sehen Sie einige Zeichnungen, schwarze Linien auf weißem Blatt, es sind Zeichnungen von Gegenständen, deren Gestalt sich auf Umrisse beschränkt. Entscheidend, so schreibt der Künstler, sei für ihn die folgende Frage: "Wie viel Zeichnung ist nötig, um alle Kanten eines Gegenstandes im Raum zu manifestieren? Und wie viel Linie ist zusätzlich nötig, um die Richtungen gekrümmter Flächen eindeutig zu beschreiben?" Genau besehen ist dies eine Frage der darstellenden Geometrie. Das "wie viel" an Zeichnung und Linie ließe sich sicher errechnen oder über ein CAD-Programm austüfteln. Für Raschke aber resultiert das Ergebnis aus einer versuchsweisen Annäherung, aus einer Wiedererkennung, die sich nach und nach einstellt, sich ausdifferenziert - solange, bis die Tischbohrmaschine, das Schweißgerät oder eine komplette Werkstatt plastisch Gestalt annimmt.

Wohlgemerkt, wir sind noch immer bei der Zeichnung, also in der zweidimensionalen Fläche. Aber diese Zeichnungen entführen uns automatisch - oder eher symptomatisch - in den Raum, dorthin, wo wir die Gegenstände wiederkennen, wo sie uns vertraut sind. Wie viel Zeichnung nötig ist, um dem Raum in der Fläche seine spezifische Kontur zu geben - diese Frage ist also, wenn man die Zeit als eine vierte Dimension anerkennt - eine Frage nach der Henne und dem Ei: Ideell und chronologisch fragt sie nach den Parametern der Wiedererkennung: Was war zuerst? Erkennen wir den gezeichneten Gegenstand als einen dreidimensionalen wieder, weil er ein Minimum jener Anforderungen erfüllt, die Raschke formuliert hat? Oder erfüllt der gezeichnete Gegenstand jenes Minimum an Anforderungen, weil wir ihn fast schon bedingungslos als solchen wiedererkennen wollen? Das klingt ungemein tautologisch, entspricht aber durchaus der verzwickten Logik des Mythos. Natürlich nur, wenn Sie mir glauben.

Wenn ja, dann also b) der dreidimensionale Raum. Der Schritt vom zwei- zum dreidimensionalen Raum erfolgt bei Raschke nicht so, wie sie vielleicht denken. Denn die Zeichnungen, die sie hier sehen, sind allesamt nach den dreidimensionalen Objekten entstanden. Sie sind also keineswegs Entwürfe, sondern vielmehr dokumentieren sie nachträglich so etwas wie eine ideale Perspektive des jeweiligen Prototypen. Die Prototypen selbst sind aus Draht, Thomas Raschke bezeichnet sie als "wire frames", es sind Zeichnungen im Raum, Linien, die sich - je nach Betrachterstandpunkt oder Bewegungsrichtung - überschneiden, bündeln, sich gegenseitig zum Verschwinden bringen. Wenn Sie sich einem einzelnen Objekt zuwenden, werden sie merken, daß Sie sich keineswegs nur an der Zeichnung oder Hülle festhalten und entlang hangeln. Raschke spricht von der Möglichkeit einer "visuellen Durchdringung", die nur dann funktioniert, wenn sie in allen Details stimmt. Und die Details stimmen, sind wunderbar gearbeitet - nicht umsonst ist der Künstler Handwerker. Sie führen unweigerlich dazu, daß Sie als Betrachter nicht nur die Gestalt der Gegenstände nachvollziehen, sondern stets auch deren Funktion antizipieren oder rekonstruieren.

Dieser Wäschetrockner könnte in Ihrer Vorstellung funktionieren, Wäsche aufnehmen, Wasser aussaugen, abpumpen; den Tauchsieder scheinen Sie einfach nur an die Stromversorgung anschließen zu müssen, ebenso das alte Röhrenradio. Die Pflanze in dem Kübel braucht nur ein wenig mehr Licht, und es wäre ein Leichtes, aus der Platte und den Böcken einen Arbeitstisch zu kreieren. Sie stellen sich das vor und kreieren ihren eigenen Mythos, den Sie benutzen, gebrauchen, verwerfen können. Oder nach Gebrauch wegwerfen. Wenn Sie der Einladung zu dieser Eröffnung gefolgt sind, so konnten Sie dem Ausstellungstitel bereits entnehmen, daß es in Thomas Raschkes jüngster Installation genau darum geht: um das Wegwerfen oder den Mythos des "Sperrmülls".

Darum und abschließend c) die vierte Dimension, die Zeit. Denn die Anordnung seiner "wire frames" hier im Institut Français ist nicht nur eine Frage des Raumes, sondern mehr noch eine der Zeit. Wenn wir uns erinnern, so tragen die Zeichnungen die Züge eines Entwurfes - was nicht stimmt. Seine Objekte erscheinen wie Prototypen von Produkten, die anschließend in Serie gehen - was ebenso wenig zutrifft, wie die Vorsehung, die Geräte könnten tatsächlich einmal funktionieren. Hier, an dieser Wand aufgereiht, auf dem Boden, kreuz und quer, angelehnt, ineinandergeschachtelt gewinnen die "wire frames" Thomas Raschkes eine ganz andere zeitliche Dimension und Wertigkeit. Es ist Sperrmüll. Die Dinge haben bereits ausgedient. Entsorgt, die Pflanze in dem Kübel, ausgedient der Wäschetrockner, der Arbeitstisch nicht mehr zu bebrauchen, das Röhrenradio wahrscheinlich ausgebrannt.

Das ist ein Kunstgriff, natürlich. Ein bedeutender aber und meines Erachtens absolut großartiger, mit dem Thomas Raschke den verschiedenen Dimensionen seiner Arbeit eine neue Dimension abgewinnt. Fest entschlossen, den Mythos von Kunst und Leben in Bewegung zu halten, appelliert er an unsere Aufmerksamkeit, unsere Skepsis und unser Mißtrauen. In diesem Sinne nochmals - aber ohne erhobenen Zeigefinger: "Vorsicht vor dem "Deutschen Handwerk"! Und Vorsicht vor Raschke als Solisten!"



DIETER BRUNNER

Zwischen Küche und Werkstatt

Zu den Drahtskulpturen von Thomas K. Raschke

"In einer schönen Zeichnung pulsiert die Linie wie eine Seele vor lauter Unentschlossenheiten, Sicherheiten und gewollten Täuschungen." Fausto Melotti


I.
1 Ein Silberschmied durfte Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts für Picasso nach dessen Zeichnungen sechs Eisenplastiken ausführen. Danach hat der Silberschmied Feuer an der Kunst gefangen: Bescheiden fragte er den großen Meister, für den die Arbeit an diesen sechs Plastiken nur ein kurzes Intermezzo war, ob er an der Skulptur überhaupt und an diesem Thema weiterarbeiten dürfe. Der Jahrhundertkünstler bestärkte ihn und wurde so zum Katalysator für eine Entwicklung in der Skulptur, die für die moderne Skulptur bestimmend werden sollte. Er überließ diese Goldmine dem Kunsthandwerker, der seinerseits zum Jahrhundertbildhauer, zum Pionier der Raumzeichnung und der Eisenplastik werden sollte: Julio González.

Sieben Jahrzehnte später ist die Arbeit mit dem Eisen und mit der Zeichnung im Raum immer noch aktuell, freilich unter ganz anderen Vorzeichen: Die Arbeit damit ist selbstverständlich geworden. Künstler unserer Zeit kennen die Entwicklung; deshalb wird der Spielraum für die Zeitgenossen gerade in diesem Bereich immer enger. Auch Thomas K. Raschke war Silberschmied, bevor er begann, mit Eisen zu arbeiten und den Eisendraht als Synonym für die Linie im Raum zu nehmen. Er konnte Picasso nicht fragen, ob er Kunst machen solle oder dürfe, er hat sich schlicht nach einer kurzen Tätigkeit in seinem Kunsthandwerk dafür entschieden.

2 Für seine filigranen dreidimensionalen Metallkonstruktionen benutzt Raschke fast ausschließlich Drähte in einer Dicke von drei bis vier Millimetern die er miteinander verlötet. Die Arbeit mit Draht ist in der Kunstgeschichte nicht neu. Sie entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts, als in Europa kubistische, konstruktivistische, dadaistische und surrealistische Tendenzen die Kunstszene bestimmten. Die neue, vom Kubismus geschulte Art des Sehens, bedingte auch einen radikalen Wandel in der Plastik. Die Künstler entfernten sich von der körperhaften Kernplastik und definierten die Plastik neu als vielansichtigen, aus Flächen und Streben zusammengesetzten Körper.

Parallel zu den Entwicklungen der Ingenieurbaukunst forderten auch die Künstler, die Skulptur von der Masse zu befreien - allen voran Antoine Pevsner und sein Bruder Naum Neemia Pevsner (genannt Naum Gabo) 1920 in ihrem "Realistischen Manifest". Vor allem industrielle Halbfertigprodukte, wie Bleche und Stäbe aus Metall, erschienen ihnen als ideale Werkstoffe. Antoine Pevsner entwickelte in den dreißiger Jahren dynamisch gekurvte Flächen aus aneinandergelöteten Messingstäben, um - wie er im "Realistischen Manifest" betonte, Raum und Licht in die Plastik zu integrieren. Naum Gabo konstruierte 1920 mit einem durch einen Elektromotor in Schwingung versetzten Metallstab gar die erste motorbetriebene kinetische Skulptur.


II.
3 Raschkes Skulpturen aus Draht nehmen eine merkwürdige Zwischenposition von Abstraktion und Gegenständlichkeit - an sich eigentlich nichts Ungewöhnliches - ein: Zusammenhänge werden auf Strukturen reduziert. Raschke geht von einem realen Objekt aus - Küchentisch, Werkbank, Tauchsieder etc. -, misst es aus und überträgt die Maße 1:1 auf den Eisendraht. Dargestellt ist in diesen Objekten vor allem die Außenform, die einfachste Form gegenständlicher Beschreibung.

Die Linie definiert in der Regel den Umriss der Motive; in verschiedenste Richtungen wird die Linie zum Ausschnitt aus der Wirklichkeit genutzt. Wie bei der Computertomografie ergeben diese einzelnen Segmente ein additives Gesamtbild. Dieses Abbild erinnert an virtuelle Welten, an Simulationen des Computers. Der Künstler nennt seine plastischen Zeichnungen deshalb auch wire frames, da ihre Netzstruktur computergenerierten dreidimensionalen Zeichnungen entlehnt ist. Virtuelle Rotation macht diese Gitterstrukturen zu plastischen Gebilden; bei Raschke hingegen übernimmt es der Betrachter, der um die Objekte herumgeht und sie ins Plastische übersetzt.

4/5 Die Installationen Raschkes lesen sich wie ein großes Kompendium der Linie: vor allem als Umriss, aber auch als Bewegungsspur, als Schraffur, als Strukturelement. Linien in all ihren Möglichkeiten. Raschke muss sich bei der Übersetzung realer Gegenstände immer wieder aufs Neue entscheiden, welche Linien er herausgreift und welche wer weglässt. Nachvollziehbar ist dies noch bei konstruktiven Teilen wie beispielsweise der Lampe, wo er sich weitgehend am Gerippe des Lampenschirms orientieren kann. Weitaus weniger Anhaltspunkte hat er sicherlich bei organischen Gebilden wie der Kartoffel oder beim Teddybär, bei denen er den Gegenstand von mehreren Seiten aufreißen muss. Liniengerüste formieren sich so zu skelettierten Gegenständen: Linien be- und umschreiben Gegenstände, denen die Substanz, das Fleisch zu fehlen scheint. Reduziert ist die Masse, das Volumen der Gegenstände und die eigentliche Präsenz. Und damit ist den Objekten auch die Sinnlichkeit des Materials, des Plastischen gemeinhin, genommen. Sie haben einen hohen Grad an Immaterialität erreicht.

Die Bündelung von Linien erinnert an die Schraffurtechnik in der Zeichnung; immer wieder wird der Betrachter auf die Ebene zweidimensionaler Gestaltung zurückgeworfen. Bei Raschkes Objekten gibt es Stellen, in denen die Linien sehr weit voneinander entfernt sind, und andere, in denen sie sich verdichten. Mit Linien werden in der skizzenhaften Zeichnung traditionellerweise Gegenstände umkreist. Erinnert sei beispielsweise an die Zeichnungen und Gemälde eines Alberto Giacometti (Abb. 1): Mit Linien versuchte sich dieser Künstler, dem Gegenstand zu nähern, ohne ihn jemals zu erreichen, und auch der Betrachter bleibt auf Distanz. Erinnert sei aber auch an die spezielle Technik bei Druckverfahren, bei denen die Linie die übliche Form des Punktrasters ersetzt: Diese Technik erzeugt eine Unschärfe. Durch die oftmals parallele Struktur der Linien bei den Objekten von Thomas K. Raschke geschieht dies im übertragenen Sinne auch in den im Blickfeld liegenden Ausschnitten seiner Beschreibungen.

7/8 Mit der linearen Metallskulptur verbinden sich einerseits Immaterialität durch das hohe Maß an Transparenz und andererseits Bewegung über die rhythmisierte Raumspannung. Hingewiesen sei deshalb auch auf die Verwandtschaft mit einer Form kinetischer Kunst: Ähnlich wie bei der Op-Art (Abb. 3) ist auch bei den Installationen von Raschke die Veränderung der Objekte durch die Bewegung des Betrachters in fast schon irritierender Weise erfahrbar. Die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts viel beschworene Mehransichtigkeit von Skulptur erfährt bei Raschke geradezu eine wenn auch ganz anders gemeinte Steigerung: Die plastische Situation verändert sich für den Betrachter ständig durch immer neue Überschneidungen.

Bei den Objekten selbst fällt hingegen die eingeschränkte Beweglichkeit auf; ihre Mobilität ist nur marginaler Natur. An manchen Stellen greifen die Gelenkpunkte ineinander und sind scharnierartig beweglich. So könnten beispielsweise die Räder der Maschinen und des Spielzeugs fahren, auch wenn sie dafür nicht gedacht und gemacht sind. An anderen Stellen wiederum verzichtet Raschke gar ganz auf Beweglichkeit und lässt die Gelenkpunkte starr.


III.
9 Die Situationen scheinen wie mit einer bestimmten Kamera eingefangen; die technisch höchst komplexe Holografie beispielsweise bietet im dreidimensionalen Bereich die Möglichkeit einer solchen Wiedergabe. Raschkes gewählte Technik mit den die Außenform - die Gegenstandsgrenze - konstituierenden Drähten ist also nicht so sehr Selbstzweck, sie bietet dem Künstler vielmehr eine bestimmte Sicht der Dinge wie beispielsweise der pastose Farbauftrag in der Ölmalerei. Sie ist sicherlich eine beschränkte Sonderform, die nicht alle Möglichkeiten zulässt, entspricht also beispielsweise im skulpturalen Bereich eher solchen Techniken wie dem Häkeln mit Wolle oder der additiven Montage mit Eisenblech. Die Hauptmerkmale von Raschkes Sicht der Dinge sind die Künstlichkeit und der Verzicht auf Emotion.

9a Alle Gegenstände werden im Verhältnis 1:1 wiedergegeben, alles wird gleich gesehen - ohne wertende Unterscheidung. Auf Raschke kann man ein Zitat, das einmal über Claude Monet gemacht wurde, übertragen: "Er ist nur ein Auge, aber was für ein Auge!" Präzise bilden die Linien in Raschkes Skulpturen die Realität ab; im Gleichklang der Gegenstände ist ihnen ihre Emotionalität abhanden gekommen. Gerade deshalb war die Realitätsübersetzung von 1:1 in der Kunst lange Zeit verpönt; sie galt als langweilig.

Sie ist heute vor allem im anglo-amerikanischen Bereich zuhause und dient häufig der täuschenden Imitation; dieses Übertragungungsverhältnis ist ein typisches Merkmal der Kunst der Hyperrealisten wie z. B. von Duane Hanson. Genutzt wird dieser Maßstab aber auch in ganz anderen Bereichen: in Jahrmärkten und Wachsfigurenkabinetten. Man kennt dieses Darstellungsverhältnis aber auch von Substituten: von der Kunststoffpflanze, die nicht mehr gegossen werden muss, vom Buch im Regal, das keines ist und nicht mehr gelesen werden muss und nur für die Gäste als Statussymbol der Bildung dienen soll. Auch Raschke nutzt diesen Imitationsmaßstab, manch andere Dinge hat er jedoch weg gefiltert, entstanden ist dabei der Eindruck von Unnatürlichkeit, von Kunst-Situation.

10Der Betrachter wird in Raschkes Szenen immer wieder auf die zweite Dimension zurückgeworfen: Wie bei Zeichnungen ist auch der Grund der Installation - Hintergrund und Untergrund - in neutralem Weiß gehalten. Die Inszenierungen bieten eine entrückte Atmosphäre: Sie sind Kunst-Raum im doppelten Sinne. Reale Gegenstände des Ausstellungsraums wie Heizkörper und Fenster gehen eine merkwürdige Liaison - Störung und Zusammenklang - mit den Kunst-Objekten ein. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Verwandlung der Linie aus der dreidimensionalen Gestaltung zurück in die zweite Dimension: Raschkes Zeichnungen haben auf diese Weise mehrere Stadien durchlaufen. Die Raumlinie wird in seinen Drawings after wieder in die Fläche gepresst.

11 Mit der Emotionslosigkeit einher geht bei diesen Objekten die Präzision und das Prinzip der Konstruktion: Sie sind gleichsam eine Reminiszenz oder Hommage an die Ingenieure des 19. Jahrhunderts wie jenen berühmten Erbauer des Turms für die Pariser Weltausstellung von 1889, an Gustave Eiffel. Sie erinnern an die flüchtigen Skizzen eines Architekten, der es versteht, mit wenigen Strichen auf der planen Fläche des Zeichenblocks ein dreidimensionales Gebilde entstehen zu lassen. Die Gegenstände sind in Raschkes Installationen gleichsam reduziert auf das Gerüst: Wie beim Eiffelturm wird ihre reine Konstruktion sichtbar. Im weitesten Sinne artikuliert sich hier aber auch das Todesthema: Dem Gegenstand fehlt jegliches Fleisch; er ist nicht mehr greifbar, er ist gleichsam skelettiert.


IV.
13/14 Ohne Beachtung bleibt lange der inhaltliche Aspekt von Raschkes Inszenierungen: Der Betrachter ist zunächst bemüht, sich mit dem Realitätsbezug der Dinge und der gestalterischen Übersetzung auseinanderzusetzen. Die Gegenstände sind von Anfang an trotz der spezifischen Abstraktion wie selbstverständlich in ihren Einzelteilen existent; aber erst viel später reflektiert der Betrachter die Thematik und hinterfragt die Gesamtheit der Gegenstände. Dargestellt ist die kleinbürgerliche Idylle: Küche und Werkstatt verweisen auf die traditionelle Rollenteilung. In der Werkstatt des Mannes sind verschiedene Werkzeuge und Maschinen nebeneinander aufgereiht, meist Geräte, die seit ihrer Erfindung in den vergangenen zwei Jahrhunderten nur wenige Verwandlungen erfahren haben: der Motor, das Schweißgerät, der Bohrständer. In der Küche der Hausfrau liegt Kinderspielzeug auf dem Boden, auf dem Herd kochen die Kartoffeln im Topf. Ein Sprossenfenster suggeriert Heimeligkeit und scheint den Ausblick zu gewähren; ein obligatorischer Blumentopf steht auf dem Fensterbrett. Gestört wird die Idylle - welch eine Überraschung aus deutscher Sicht ! - lediglich durch einen Revolver, der in der Tischschublade liegt. Vielleicht wäre einem Amerikaner dieser Gegenstand noch lange kein Grund für die Störung der Idylle, sondern eher der Garant. So gesehen könnten die Szenen von Raschke auch den Bildern von Edward Hopper, dem großen amerikanischen Maler, der das Leben in der ländlichen Idylle gezeigt hat, entliehen sein.

12Raschkes Sichtweise verweist vor allem auf den Verlust der Intimität: Der Betrachter wird zum Voyeur, zum Eindringling. Vorstellungsbereiche wie das Eindringen in Tabubereiche werden damit verknüpft. Alle Dinge werden sichtbar, auch die in Behältern versteckten: die Dinge im Wandschrank, die Kartoffeln im Kochtopf, das Geschirr in der Geschirrspülmaschine und die oben erwähnte Pistole in der Küchenschublade. Wie bei der Flughafenkontrolle kann das Innenleben durchleuchtet, offen gelegt werden. In diesen Objekten wird deutlich, dass der Schritt zum gläsernen Menschen in unserer Zeit nicht mehr weit scheint, denkt man auch an Fernsehsendungen, die dies zum Thema und zum Sport machen.

In den Objekt-Installationen von Raschke ist der Betrachter Teil der Inszenierung; er darf und muss sich darin aufhalten. Er sucht die für das Erfassen notwendige Distanz, ohne sie jemals erreichen zu können. Er ist zur Nähe gezwungen, er ist Gefangener - im doppelten Sinne - der Situation. Nicht von ungefähr ist auch die Vorstellung vom Gefangensein mit einem linearen Gitternetz verknüpft.

Im weitesten Sinne sind die linearen Metallskulpturen von Raschke damit Käfige. Von hier aus lassen sich eine Reihe von Querverbindungen zu Klassikern der Kunstgeschichte (wie Alberto Giacometti und Alexander Calder) ziehen, die das Motiv des Käfigs in ihren Skulpturen aufgegriffen haben. So sei beispielsweise auf den "Palast um vier Uhr früh" aus dem Jahr 1932 von Alberto Giacometti oder an den Zirkus????, 1924???..., von Alexander Calder verwiesen. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang außerdem die Gitterköpfe von Hans Uhlmann aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts (Abb. 2) oder auch die bereits erwähnten beweglichen Drahtskulpturen von Harry Kramer aus den 50er Jahren.

Zurück zur dargestellten Idylle: In diesem Zusammenhang darf noch einmal auf die Herkunft des Künstlers verwiesen werden. Raschke ist in einer schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen, ist dort in die väterliche Werkstatt - wie übrigens einst auch Julio Gonzalez - eingetreten, um sich für die Nachfolge vorzubereiten. Dem Schwaben wurde es in der Kleinstadt zu eng, er wanderte aus nach Berlin, wo eine Vielzahl anderer schwäbischer Emigranten lebt. Wenn es ihm auch dort einmal zu eng werden sollte, wird er wohl noch einmal auswandern - vermutlich nach Amerika. Und was erwartet ihn dort? Wohl die gleiche kleinbürgerliche Idylle wie einst in Schwaben. Nur mit einem Revolver in der Küchentischschublade.


Ergänzungen zum Raschke-Text
1 Silberschmied als Eisenplastiker
2 Draht in der Kunstgeschichte
3 Maßstabsgetreu, realistisch
4 Linie / Immaterialität
5 Drucktechnik: Linie als Punktraster
6 Integration des Betrachters / Käfig
7 Parallelen zur kinetischen Kunst, Op-Art
8 Eingeschränkte Beweglichkeit
9 Holografie / Technik mit eingeschränkten Möglichkeiten / künstlich, emotionslos
3a Maßstab 1:1, realistisch / Imitation, Substitut
10 Zweidimensional
11 Ingenieurbau
12 Intimitätsverlust
13 Küche und Werkstatt / Idyll / Rollenteilung / Irritation
14 Herkunft des Künstlers

Zu 1: auch bei González offene, lineare Raumzeichnungen (z. B. Grande Maternité oder Femme se coiffant). In Zusammenarbeit mit González arbeitete auch Picasso selbst bei seinem Entwurf für ein Apollinaire-Denkmal oder der Kopfskulptur Tête mit Metalldraht. Für seine dreidimensionalen Drahtkonstruktionen, von Kahnweiler "Raumzeichnungen" genannt, benutzt Picasso fast ausschließlich Metallstäbe mit verbindenden Schweißpunkten.

Zu 2: Die Arbeit mit Draht ist in der Kunstgeschichte nicht neu. Sie entwickelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts, als in Europa kubistische, konstruktivistische, dadaistische und surrealistische Tendenzen vorherrschen. Die neue, vom Kubismus geschulte Art des Sehens, bedingt auch einen radikalen Wandel in der Plastik. Die Künstler entfernen sich von der körperhaften Kernplastik und definieren die Plastik neu als vielansichtiger, aus Flächen und Streben zusammengesetzten Körper. "Die Körperlichkeit der Plastik bestimmte sich nun nicht mehr in erster Linie über vollplastische, modellierte oder behauene Volumina, sondern erwies sich als komplexes räumliches Gefüge im gleichberechtigten Zusammenspiel von Flächen, Linien und Leerraum." (Stephan Diederich, in: Stahlplastik in Deutschland, Ausstellungskatalog Halle und Peißnitz, Hannover 1993, S. 11.) Die Künstler beginnen, sich als Repräsentanten des Industriezeitalters zu verstehen, als Konstrukteure oder Monteure. Eisen wird ein aktuelles Arbeitsmaterial für die Kunst (vgl. dazu Willy Rotzler, Eisen in der Kunst, in: Ferrum 48 (Sept. 1977).) Vor allem die Konstruktivisten schätzen die Transparenz, Stabilität und technoide Aura dieses Materials.

Parallel zu den Entwicklungen der Ingenieurbaukunst fordern auch die Künstler, die Skulptur von der Masse zu befreien - allen voran Antoine Pevsner und sein Bruder Naum Neemia Pevsner (genannt Naum Gabo) 1920 in ihrem "Realistischen Manifest". Vor allem industrielle Halbfertigprodukte, wie Bleche und Stäbe aus Metall, erscheinen ihnen als ideale Werkstoffe. Antoine Pevsner entwickelte in den dreißiger Jahren dynamisch gekurvte Flächen aus aneinandergelöteten Messingstäben, um - wie er im "Realistischen Manifest" betonte, Raum und Licht in die Plastik zu integrieren. Naum Gabo konstruierte 1920 mit einem durch einen Elektromotor in Schwingung versetzten Metallstab seine erste kinetische Skulptur.

Wladimir Tatlin verwendete bereits 1915 in seinen raumverspannenden Eckreliefs neben Holzstreben und Glasteilen vor allem auch Drähte und Metallplatten. Oscar Schlemmer bildete in den frühen zwanziger Jahren am Bauhaus seine Drahtfigurinen aus Metalldraht. Harry Bertoia, der mit den Designern Ray und Charles Eames zusammengearbeitet hat, fertigte in den vierziger Jahren Klangskulpturen aus Metalldraht. Während dieser Zeit knüpfte David Smith an surrealistische Arbeiten Giacomettis an und konstruierte räumliche, gitterartig wirkende Installationen.

Nach 1945 wird der Metalldraht in der Skulptur zunächst seltener verwendet. César und Chamberlain arbeiteten mit deformiertem Autoschrott; Stankiewicz und Tinguely mit additiv zusammengefügten Schrottkonglomeraten. In der abstrakten Plastik bekommt der Werkstoff Eisen seit Eduardo Chillida oder Berto Ladera seine Massigkeit zurück. Im Deutschland der Nachkriegszeit verwendet Hans Uhlmann, der bereits Mitte der dreißiger Jahre mit Drahtplastiken experimentiert hat, als erster wieder Materialien wie Metalldraht, Blech und Bandstahl. Seine Drahtköpfe greifen Elemente aus Picassos Raumzeichnungen und Calders Drahtfiguren auf. Uhlmann wiederum beeinflußt Norbert Kricke, der seit Beginn der fünfziger Jahre vorwiegend mit Messing- und Stahlstäben arbeitet. Mit parallel zusammengelöteten Metallröhren oder Messingstäben entwickeln Brigitte Denninghoff und Martin Matschinsky Ideen von Antoine Pevsner weiter. (Zur Entwicklung der Eisen- und Stahlplastik vgl. Stephan Diederich, in: Stahlplastik in Deutschland, Ausstellungskatalog Halle und Peißnitz, Hannover 1993, S. 10-27).

Ähnliche Umformungen technischer Objekte in filigrane Drahtgeflechte wie sie Thomas Rasch anfertigt, finden wir in der zeitgenössischen Kunst bei dem russischen Künstler Ilya Kabakov. Für die Ausstellung "3 Räume - 3 Flüsse" entwarf er die Rekonstruktion einer Brücke, die nahezu schwerelos über der "kleinen Werra" schwebt: Das transparente, nicht begehbare Trugbild eines Steges zum anderen Ufer.

Zu 3: Raschke bedient sich für seine wire frames ganz direkt des Gegenstandes. Er geht von einem realen Objekt aus - Küchentisch, Werkbank, Tauchsieder etc. -, mißt es aus und überträgt die Maße 1:1 auf den Eisendraht.

Zu 4: Plastische Zeichnungen, die der Künstler auch wire frames nennt, da ihre Netzstruktur computergenerierten dreidimensionalen Zeichnungen entlehnt ist. Virtuelle Rotation macht diese Gitterstruktur zum plastischen Gebilde. Bei Raschke übernimmt es der Betrachter, der um die Objekte herumgeht sie ins Plastische zu übersetzen.

Zu11: Sie erinnern an die flüchtigen Skizzen eines Architekten, der es versteht, mit wenigen Strichen auf der planen Fläche des Zeichenblocks ein dreidimensionales Gebilde entstehen zu lassen.


REST

Raschke ist Mitglied der Künstlergruppe Deutsches Handwerk. Der Name verweist auf seine ursprüngliche Tätigkeit in der Werkstatt des Vaters.

Entscheidend ist aber auch die bewusst handwerkliche Ausführung, die Präzision der beschriebenen Gegenstände.

Skulpturen haben die Anmutung von Miniatur - trotz ihres eindeutig definierten Maßstabs von 1:1. Die Skulpturen erinnern an Spielzeug, an Spieltrieb

den Einzelteilen zu entziehen und die Szene als Gesamtbild wahrzunehmen
Ähnliche Umformungen technischer Objekte in filigrane Drahtgeflechte wie sie Thomas Rasch anfertigt, finden wir in der zeitgenössischen Kunst bei dem russischen Künstler Ilya Kabakov. Für die Ausstellung "3 Räume - 3 Flüsse" entwarf er die Rekonstruktion einer Brücke, die nahezu schwerelos über der "kleinen Werra" schwebt: Das transparente, nicht begehbare Trugbild eines Steges zum anderen Ufer.

. "Die Körperlichkeit der Plastik bestimmte sich nun nicht mehr in erster Linie über vollplastische, modellierte oder behauene Volumina, sondern erwies sich als komplexes räumliches Gefüge im gleichberechtigten Zusammenspiel von Flächen, Linien und Leerraum." Die Künstler begannen, sich als Repräsentanten des Industriezeitalters zu verstehen, als Konstrukteure oder Monteure. Eisen wurde ein aktuelles Arbeitsmaterial für die Kunst . Vor allem die Konstruktivisten schätzten die Transparenz, Stabilität und technoide Aura dieses Materials.

Harry Bertoia, der mit den Designern Ray und Charles Eames zusammengearbeitet hat, fertigte in den vierziger Jahren Klangskulpturen aus Metalldraht. Während dieser Zeit knüpfte David Smith an surrealistische Arbeiten Giacomettis an und konstruierte räumliche, gitterartig wirkende Installationen.

Nach 1945 wurde der Metalldraht in der Skulptur zunächst seltener verwendet und für eine Weile von deformiertem Autoschrott und geschmiedeten Eisenmassen verdrängt. Als erster verwandte im Deutschland der Nachkriegszeit Hans Uhlmann, der bereits Mitte der dreißiger Jahre mit Drahtplastiken experimentiert hat, wieder Materialien wie Metalldraht, Blech und Bandstahl. Seine Drahtköpfe greifen Elemente aus Picassos Raumzeichnungen und Calders Drahtfiguren auf. Uhlmann wiederum beeinflusste

Der Gegenstand, das Bild, das Objekt fordert durch diese Unschärfe mittels der Formulierung durch Liniengerüste eigentlich Distanz zum Betrachter.

1. Zitat Fausto Melotti aus: F. M . S. 37

2. (Zur Entwicklung der Eisen- und Stahlplastik vgl. Stephan Diederich, in: Stahlplastik in Deutschland, Ausstellungskatalog Halle und Peißnitz, Hannover 1993, S. 10-27).

3. Stephan Diederich, in: Stahlplastik in Deutschland, Ausstellungskatalog Halle und Peißnitz, Hannover 1993, S. 11.)

4. vgl. dazu Willy Rotzler, Eisen in der Kunst, in: Ferrum 48 (Sept. 1977).



NIKOLAI B. FORSTBAUER

Am Anfang war die Linie -

vielleicht zumindest und doch von solcher Unbedingtheit, dass sie Kraft genug hatte, Flächen zu formulieren, Körper, Figurationen. Daraus hätte sich manches machen lassen, ein eigenes Formenvokabular auf jeden Fall, Schritte zumindest, die wir mit Entgrenzung und anderen impliziten Anforderungen an das Kunstmachen verbinden.

Was aber macht Thomas Raschke? "Irgendwie gibt er mir die Dinge zurück", sagt Sebastian Rogler, Kunstweggefährte seit langem. Die Dinge sind jene, die uns so selbstverständlich geworden sind, dass wir ihre Gestalt nur mehr peripher zur Kenntnis nehmen, von denen der Begriff reicht, um eine ganze Gestaltpalette abrufen zu können. Nun könnte es losgehen, hinaus zur Gestaltpsychologie, zur Frage, weshalb wir zwei Ovale als Teller identifizieren etwa, hinüber auch zur Diskussion, wie sich wohl im Raum etwas aus Linien entwickeln läßt, das kein Volumen hat, hin schliesslich zur Frage, welche Annäherungsformen wir möglicherweise brauchen (und welche Rolle dabei die Kunst spielen kann oder muss), um die aktuelle Dingwelt des Westens in ihrer unübersehbaren Menge und widersprüchlich gleichförmigen Vielfalt geistig und körperlich begreifen und ordnen zu können.

Am Anfang war die Linie - und tarnte sich in der Fläche, im Körperhaften, in der Figuration. Denn zunächst ging es ihm ja um die Frage der äußeren Kanten eines Dings - "die hatten noch keine Innereien", wie er sagt. Perfektion im Detail ist verführerisch, zahllose Kreuzungspunkte gaben bald der Fläche Halt - ein Mass an Verbeugung vor dem Ding, dem Raschke heute mit der Überzeugung antwortet, dass der Ansatz reichen muss. In seinen eigenen Worten "So wenig Linie wie möglich." Das hindert Raschke nicht daran, der Linie buchstäblich auf den Grund zu gehen: Netzstrukturen animierter Bilder, wire frames, werden in Videostills selbst zum bildnerischen Ereignis.

Wie aber entstehen nun Raschkes Dinge, die wir Werkbank oder Bohrmaschine nennen?

Wer sich in einer Werkstatt umsieht, findet garantiert auch ein Stück Draht, körperhafte Linie mithin, mit der man bei entsprechender Übung im Raum zeichnen kann. Gelöteter Eisendraht hält die Teile eines Ganzen zusammen, das weiter wachsen soll. Mehr noch aber: Der Zeichner Raschke sieht die Werke des Plastikers Raschke. "Ich nehme die Masse vom Original ab", sagt er, "baue", "fotografiere", "zeichne dann 1:1". Der Raum sinkt in die Fläche zurück und provoziert doch nur neue Raumträume. Verändert sich das Bauen, verändert sich alles.

"Irgendwie gibt er mir die Dinge zurück" - das impliziert ein Innehalten, ein Sich-des eigentlich-Bekannten-Vergewissern, ein Bestätigen dessen, was ist, dessen auch, was diese Dinge eigentlich ausmacht, wie sie beschaffen sind, wie sie gemacht sind. Allerlei ist so in der Werkstatt zu entdecken, das fast schon symbolhafte Röhrenradio natürlich, eine Werkbank auch, Bohrmaschinen und vieles mehr. Löten, Schleifen, Schneiden - alles ist möglich in der Werkstatt, gedanklich zumindest, und vor aller Diskussion solchen Handelns als künstlerischer Äußerung sind die Grenzen zwischen Skulptur, Installation und dem von Raschke intendierten "Zeichnen im Raum" aufgehoben.

Der Mann der Linie, auch das ist klar, muss zudem den direkten Weg meiden, umkreist die Dinge, um die es geht, nähert sich vorsichtig auf dem Weg zu einer bezwingenden Dinglichkeit. Einige von Raschkes Drahtarbeiten waren in den letzten Jahren bereits in Ausstellungen der Künstlerformation Das Deutsche Handwerk in Stuttgart und Berlin zu sehen. Nur allzu verständlich, dass einer, der dem Deutschen Handwerk Kunst abringt, auf die Werkstatt nicht verzichten mag. So hat er letzten September seine Berliner Werkstatt einfach mitgebracht in die Stuttgarter Galerie Rainer Wehr. Bei der dortigen Installation ruhte im ersten Raum, die Szene beherrschend, der Staubsauger des Galeristen, auch er erwachsen aus gelötetem Draht. Der Staubsauger - ein Haustier? Eher schon eine Zeichnung, die sich gebaut hat.



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