THOMAS RASCHKE

Hallo R.,

ich bin kein großer Schreiber. Ich bin ja auch Bildhauer geworden und nicht Schriftsteller.
Wenn ich jetzt zurückdenke, wo die Idee der meiner plastischen Zeichnung, den wire frames, ihren Ursprung nimmt, so weist der Erinnerungsstrang direkt auf das Innenleben der frühen Pappskulpturen. Um aus statischem Material eine amorphe Form zu generieren, ist das Prinzip von Skelett und Haut, - also Innenkonstruktion und Hülle - , naheliegend. Ähnlich einem Zeppelin, der ein sehr schönes Beispiel ist für die Entdeckung ist, dass die Skelettkonstruktion alleine schon die ganze Form inklusive Volumen beschreibt. Das klingt sehr einfach und einleuchtend; jedoch uns allen ist bekannt, dass Plastizität in einer Zeichnung zeichnerisch durch Linien, Linienrichtungen und netzartige Strukturen dargestellt werden. Wir vergessen darüber ganz das hohe Maß an Abstraktion, da wir es ja mit einem zweidimensionalen Blatt Papier zu tun haben. Doch wie hoch ist die Abstraktion im Zeppelinskelett? Die Krümmung der horizontalen wie der vertikalen Linienkonstruktion suggeriert uns die sphärische Fläche. Zusätzlich gibt diese plastische Linie exakt Auskunft über die Grenze zwischen Außenwelt und Ding. Die Linien als minimales Kürzel für komplexe plastische Formen.

Einen Schritt weiter gegangen ist die Vervielfältigung dieser Möglichkeit: die plastische Zeichnung eingeschrieben in die plastische Zeichnung. Ein bisschen wie das Madruschka-Prinzip. Zum Beispiel: ein Schaufelrad sitzt im Pumpengehäuse auf einem Motor im Inneren einer Waschmaschine. Eine Zeichnung in einer Zeichnung - nur dreidimensional. Doch wie lässt sich eine plastische Form über gekrümmte Linien im Raum beschreiben? Ein Zeichner findet da ganz andere Lösungen als ein Mathematiker. Der Zeichner braucht zur Darstellung einer Schüssel nur eine Ellipse und einen Kreisbogen. Er lebt von der Abstraktion und deren Bedeutung. Computerprogramme bedienen sich einer gleichmäßigen Netzstruktur, dem sogenannten wire frame. Die Überlegenheit dieser Gitterstrukturen wird bei einer virtuellen Rotation des Gegenstandes deutlich. In der Plastik sind die Verhältnisse umgekehrt: der Gegenstand steht still, und der Betrachter umkreist den Gegenstand bei gleichem optischem Effekt. Leider sind Waschmaschinen viel komplexer als einfache Schüsseln. Entscheidend ist für mich die Frage: Wie viel Zeichnung ist nötig, um alle Kanten eines Gegenstandes im Raum zu manifestieren? Und wie viel Linie ist zusätzlich nötig, um die Richtungen gekrümmter Flächen eindeutig zu beschreiben? Das ist zwar immer ein Kompromiss zwischen Lineatur und Plastizität, aber es gibt nur ein Idealmaß zwischen uneindeutiger Sparsamkeit und Üppigkeit. Zum Beispiel eine Kugel. Wie viele Kreise sind nötig, um sie überzeugend darzustellen? Zwei, drei oder bedarf es der Meridianen, der Längen- und Breitengrade unserer Weltdarstellung? Wobei wir gedanklich erst bei der Oberfläche wären. Aber wie gelangt der Blick ins Innere - bei gleichzeitiger Wahrnehmung der äußeren Gestalt?

Als Leonardo da Vincis anatomische Zeichnungen, die er heimlich anfertigen musste, publik wurden, war das für die damalige Gesellschaft ein Schock. Der Mensch als Gefüge mechanischer Strukturen. 500 Jahre später steht im Dresdner Hygiene-Museum der gläserne Mensch - ein brillantes Meisterwerk für den aufgeklärten Zeitgenossen. Doch auch wenn uns all diese Dinge bekannt sind, wenn wir staunend in Schaufensterauslagen durchsichtige Waschmaschinen oder Kameras sehen, bleiben einzelne Funktionsteile opak und verhindern das Durchdringen des Blicks. Wären - rein hypothetisch, denn kein Mensch macht so was - alle Teile gläsern, wo fände unser suchender Blick Halt? Wir brauchen zur visuellen Zuordnung der Einzelteile zumindest die Analyse der Mediumsgrenze, also wo ist das Organ oder der Motor und wo beginnt die sie umgebende Luft? Ganz anders, in einer Darstellung der wesentlichen Kanten durch Linien. Diese Methode kennen wir als technische Zeichnungen und Schnitte, oder genauso partiell in Explosionsdarstellungen. Eine wirkliche visuelle Durchdringung zuzüglich aller möglichen Ansichten plus Perspektiven ist nur möglich, wenn das Ding konsequent in allen Details als plastisches Ganzes zeichnerisch im Raum existiert. Das ermöglicht die Durchdringung der Welt.



Joystick-solo

Die Katharsis der Maschinen

Als ich als kleiner Junge vor dem Radio saß, erklärte ich mir das Entstehen der Musik mit der Vorstellung eines kleinen Orchesters, das halbrund aufgereiht im selben Mahagonibraun und im warmen gelben Radiolicht saß. Große Besetzung, Blech und Streicher, inklusive Dirigent. Im Vordergrund die Ansagerin, langes Glamour-Glitzer-Kleid, ein Blatt Papier in beiden Händen. Das reichte mir als Welterklärung voll aus. Diese Vorstellung erfüllte mich sogar mit tiefer innerer Zufriedenheit.

Mein Bruder dagegen hatte jedes neue Spielzeug, bevor es seinem eigentlichem Zweck zugeführt wurde, geöffnet und anschließend in seine Bestandteile zerlegt. Die einzelnen Komponenten wurden eingehend betrachtet und bewertet. Die Funktionszusammenhänge wurden nachvollzogen und überprüft. Danach wäre das Objekt, wieder hergestellt, zwar spieltauglich gewesen, fand dann jedoch nicht mehr sein eigentliches Interesse.

Das Innenleben technischer Geräte wurde mir im Rahmen meiner Berufsausbildung quasi aufgedrängt. Es war ein eher obszöner Akt. Das mir dargebotene, stählerne Interieur war hüllenlos nackt und angreifbar. Es entbehrte jeglicher Poesie. Doch zu Poesie ist der Mensch durchaus fähig, wenn er vom zufriedenen Brummen eines Motors spricht. Wahrscheinlich, weil er das zeitgleiche Mühen und Ächzen, das verschleißende Scharren von Stahl auf Stahl nicht zu sehen bekommt.

Ich wurde zu technischer Fürsorge angehalten. Mit Ölfläschchen und Lagerschmiere machte ich mich an die Bewegungs-Zentren der Maschinen. Siehe da, irgendwann erkennt man das behagliche Schmatzen, das widerstandslose, freudig-Ineinandergreifen von mechanischen Teilen. Eine ganz eigene großartige Musik. Der Begriff "gesund" drängt sich auf. Die Logik von Funktion, die Minimierung von Raum und Bewegungswegen, die Optimierung von Materialaufwand im Verhältnis zur Leistung gebar durchaus lyrische Organismen, geschaffen zu unserem Vergnügen. Uns dienstbar, unser Leben erleichternd. Einen Homunkulus technicus.

Der Steinzeitjäger erkannte schon früh, beim Aufbrechen und Ausweiden seiner Beute, den Weg der Nahrung. Er zog Schlüsse für seine eigene Ernährung und Verdauung. Zur Aneignung und Vermittlung seiner wissenschaftlichen Erkenntnis zeichnete er ein Tier in den Fels und schrieb all die Innereien, transparent, in den Umriss ein. Treibstoff und Antrieb von Mensch und Tier blieb jedoch ein Mysterium. Krankheit sowie Fortpflanzung blieb den Launen der Götter überlassen.

Alle Grundlagen der Mechanik waren bis zum Mittelalter bekannt. Der Blick, den Gelehrte trotz weltlichen und kirchlichen Verbots in den geöffneten Menschen wagten, offenbarte wieder Mechanik, Hebelkräfte, Sehnen, die reibungslos Zugkräfte übertragen, Dreh- und Scharniergelenke, Gefäße voller Gärungssäfte. Im Herz keine göttliche Flamme, in der Brust kein Blasebalg, um sie zu schüren. Keine Seele weit und breit. Gott wohnte offenbar nicht mehr in uns und Mechanik bewegte die Welt im Inneren und Äußeren. Das machte das Mittelalter wirklich dunkel und die Glühbirne war noch weit.

Die ersten Kopierversuche fanden statt. Das menschliche Gefäß wurde wortwörtlich und formal in Glas materialisiert, mit Säften gefüllt und auf Körpertemperatur erhitzt. Man mischte, frei nach Hippokrates, Urin mit schwarzer Galle, Blut mit Gelber. Hasenpfoten, Kröten oder Zähne sollten die Katalysatoren sein. Als letzte Ingredienz fehlte immer wieder der unauffindbare Stein der Weisen. Das versagte die Herstellung von Gold oder die Generierung des Homunkulus. Somit auch die gottgleiche Schöpferkraft.

Es ist eine sehr menschliche, vielleicht auch eine spezifisch männliche Herangehensweise, alles zu öffnen, zu sezieren, um in die kleinsten Bestandteile vorzudringen. Immer auf der Suche nach dem großen Zusammenhang. Induktiv in der Methode gräbt er nach der Weltmechanik, pantheistisch repräsentiert in den kleinsten Dingen.

In der Neuzeit findet der Mensch zur Seinserklärung einen neuen Freund und Helfer: das Modell. Es diente erst dazu, die Planeten um die Erde, dann die Erde bei gleichzeitiger Mondumrundung um die Sonne eiern zu lassen. Mechanische Wunderwerke, die Herrscher, dann Gelehrte und zuletzt den Studiosus dank ihrer Präsenz, ihrer verkleinerten unbestreitbaren Wirklichkeit, überzeugten. Meisterwerke der Uhrmacherkunst simulierten Taggleichen, Sonnenfinsternisse und zitterten, zum Klang der Spieluhr, Planetenbahnen in den Raum. Im siebzehnten Jahrhundert türmten sich Funktionsmodelle und kleine Architekturen in den Kabinetten der europäischen Wissenschafts-Akademien. Modelle waren en vogue. Mit Miniaturen von Kanonen schoss man auf Miniaturfestungen, Schanzen und Wälle. Das führte zu ballistischen Berechnungen und Festungsneubauten. Berechnet wurde mittlerweile mechanisch, mit Rechenmaschinen von Pascal.

Die Erklärung im Modell und parallel das induktive Durchwühlen des Ganzen auf der Suche nach Funktion und Einzelteilen wurde bis heute zum Wissenschaftsprinzip. Die Welt einmal so entleert, konnte Descartes die Kuh nur noch als Gras verarbeitende Milchmaschine deuten.

Die industrielle Revolution bringt wenigen Wohlstand, den meisten soziales Elend. Die Maschinen und ihre Herren verheißen das Gegenteil. Die Industrialisierung entmenschlicht den Alltag. Trotzdem feiern die Futuristen den Mechanismus als Reinigung, als Katharsis, und besingen die Ästhetik der Geschwindigkeit und des Krieges. Ein rasender Rennwagen erscheint ihnen schöner als die Nike von Samothrake. Außer der Ästhetik der Geschwindigkeit entsteht die Ästhetik der Größe, gipfelnd in der dicken Berta, Kaliber 21, die ihr: "Schaut, ich hab den Größten", über die Maginot-Linie donnerte. Die Geschwindigkeit wird der Titanic genauso zum Verhängnis wie vielen Rennfahrern. "Der Mann erfand die Maschine, um schneller bei der Geliebten zu sein", sagt Sebastian Rogler. Der Wettlauf der Maschinen beginnt. Schneller, besser, weiter, zu Wasser, zu Land und in der Luft. Die Weltkriege als Materialschlachten bestätigen die Vision des Kriegs der Maschinen, in dem der Mensch der Kategorie Material untergeordnet wird. In den Jahren danach bekam die Idee, die Maschine bringe Freiheit, Wohlstand und Frieden wieder Zulauf. Die Erfindung der Tarifautonomie und Auschwitz im Gedächtnis hat da wohl mehr bewirkt. Nachdem im Jahrzehnt zuvor die Maschinerie noch Vernichtung über die Welt brachte, ließ sich Technik doch ganz schadlos zum anbetungswürdigen Zugpferd des Wirtschaftswunders umdeuten. Das Modell erhält sein Denkmal im Brüsseler "Atomium". Die rationalen Begriffe der Technik haben wir gleichzeitig zum Lebensprinzip erkoren. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft mit einer zunehmenden Ökonomisierung des Seins. Die Frage nach Effizienz und Effektivität steht weit über der Unversehrtheit seelischer Funktionen.

Heute hat die Maschine sowie das Modell eine oder mehrere neue Dimensionen. Einsteins Theorien gehen so weit, dass sie im Modell nicht mehr fassbar sind. Uns bleiben Abstraktas wie "Gekrümmter Raum oder schwarzes Loch". Wir jonglieren mit Unendlichkeiten und Nano-Technik. Kennen sie down-Quarks und Brams? Nur noch leistungsstarke Rechner simulieren die Modellwelten. Was wirklich im Rechner passiert, die Rechnermechanik bleibt uns verschlossen. Wir müssen uns darauf einstellen, über die Bestandteile von Atomen aufgeklärt zu werden. Wir sollten uns der Vorstellung von einer vierten und fünften Dimension öffnen. Dabei werden uns computergenerierte 3D-Animationen helfen. Die Grenzen zwischen Technik und Modell verschwimmen. Die Parameter der Ästhetik lassen sich nicht mehr anwenden. Unendliche Weiten....

Noch eine Weile wird uns ausgetüftelte Mechanik ohne Mikroprozessor-Steuerung begleiten.

Zum Beispiel, wenn satt die Tür ins Schloss fällt und der Schlüssel sich geschmeidig herumdrehen lässt. Lassen Sie Ihre Füllerkappe bewusst über den Wiederstandspunkt in die Nut einklippen. Starten Sie Ihren veralteten Ottomotor. Geben Sie ihm die Gnadenfrist. Genießen Sie bewusst, und um Himmels Willen nie die Geheimzahl vergessen.



Die Kirche im Dorf

Es gibt Menschen, die verabschieden sich wortlos, allabendlich von ihrer Familie, oder nach dem gemeinsamen Essen, ein paar Stullen etwas Tee, von ihrer Frau und verschwinden ohne viel Aufhebens im Hobbykeller. Kein "Tatort" hält sie auf, keine "Wildecker Herzbuben" verhindern dieses Ritual. Im Hobbykeller versenken sie sich in Ihr Reich. Für viele beginnt dort der eigentliche Tag, ihr eigentlicher Lebenssinn und Lebenswerk. Sie tüfteln an Kuckucksuhren malen Miniaturen von Alb oder Schwarzwaldlandschaften, oder erweitern ihre Modelleisenbahnen im Maßstab H0 um eine weitere Spur. Die Dampfloks schnaufen durch etwas zu große Tunnel in zu kleinen aber steilen Bergen auf denen Gipfelkreuze oder Dorfkirchen thronen.

Dieser Spezies Mensch ist wohl viel des wirtschaftlichen Erfolgs des deutschen Südens zu verdanken. In langen verschneiten Wintertagen sind etliche feinmechanische Wunder in sogenannten Hobbykellern vollbracht worden. Kuckucksuhren, Nähmaschinen, Spinn -, Klöppel - und Webmaschinen finden ihren Ursprung in Bastelstuben zwischen Bodensee und Main.
All diese Hobbytüftler verfolgen das gleiche Ziel, sind vom gleichen Bedürfnis getrieben. Sie erschaffen in ihrem Rahmen eine funktionierende ideale kleine Welt. Einen zuverlässigen Mechanismus oder ein Idyll. Gegenwelten, für die, die Dorfkirche in ihrer maßstäblichen Verkleinerung nur exemplarisch stehen kann. Als Paradigma, gründet sie auf die Existenz und das Erleben einer nicht idealen nicht berechenbaren und gut funktionierenden Außenwelt.

Vermutlich könnte ein Soziologe einen speziellen Menschenschlag charakterisieren, der gerade einem dieser Steckenpferden frönt. Einfache, eher bürgerliche Menschen, mittleren Alters und durchschnittlicher Bildung. Normaltypen. Sie finden
ihre Erfüllung nicht im Beruf, oder etwa im Privatleben. Vom Job desillusioniert und sexuell frustriert, auf der Flucht vor Familienverpflichtungen, erschaffen sie eine idealere Welt im Hobbykeller. Das Dasein, Politik und Gesellschaft, scheinen ihnen feindlich und zu unberechenbar. Ihre kleine Wahrheit ist überschaubar, vertraut und unterliegt nur ihren Regeln und Gesetzen. Hier sind sie Schöpfer, Gott, und Bestimmer. In ihrer kleinen sicheren Welt bekommen sie alles was ihnen das Leben ansonsten versagt hat. Hier kreieren sie die Miniaturwelt so ideal wie sie, sie gerne hätten.

Egon Friedel geht in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit soweit, den Faschismus mit der bürgerlichen Idyllesehnsucht zu begründen. Man könnte behaupten, dass Millionen von Menschen aus ihren Hobbykellern und Bastelstuben herauf stiegen, um die Welt ihrer Eisenbahnenanlagen und Landschaftsmalereien in politische Wirklichkeiten zu Übersetzen Tüftler leiteten Züge wie Präzisionsuhrwerke durch Birkenwälder in Vernichtungslager und sind sich wohl nie der Wirklichkeitsdimension bewusst geworden. Der Faschismus bot die Folie für perfekte ausgedachte fahrplanmäßige Organisation, Logistik auf engem Raum als Gegenentwurf zum angeblichen Chaos fremdländischer Volksgruppen. Hier war das Betätigungsfeld, für all Jene, die dem Moloch Industriestandort und Großstatt, Vermassung und Entfremdung, die ideale Landschaft im überschaubaren Rahmen gegenüberstellten. Blut und Boden-Gemälde, röhrende Hirsche und alpenländische Dorfkirchen sind Signifikant für eine heterogene harmonische Lebenswirklichkeit, im Gegensatzpaar Realität und Ideal.

Dabei ist das Idyll ohne religiösen oder mythischen Hindergrund gar nicht so selbstverständlich, erst Anfang der Renaissance, nachdem der Humanist Petrarca eine Reise, respektive Landschaftsbeschreibung literarisch verbreitet hatte, kam die Naturbetrachtung ins Blickfeld der Kunst. Ab da war sie nicht mehr nur Bühne, Kulisse, oder Staffage für bildnerisch zu erzählende Geschichten. Mit der Zunahme von Kriegsbedrohung und der Entindividualisierung auf dem Weg in die Moderne, mit der stetigen Entfernung von Gott und Natur stieg das Bedürfnis nach Kitsch und Idyll. War im Barock der Porzellankitsch zum ersten mal nicht mehr religiös besetzt war er doch dem reichen Bürgertum und dem Adel vorbehalten. Erst mit der frühen Industrialisierung und im Nachbild der Napoleonischen Depression, verbreiteten sich Kitsch und idyllische Landschaften im kleinbürgerlichen Wohnzimmer. Nippes, Glas und Porzellanwaren aus Nippon, bevölkerten die Biedermeierstuben. Kaiser-Wilhelms Zeitgenossen kauften Souvenirs und Andenken. Sie dekorierten die Wohnzimmer mir Blumensäulen Goldrahmen, Damast, Brokat, französischen, italienischen, japanischen Püppchen, Vasen und Figürchen. Erst Hitler und der zweite Weltkrieg bescherten uns deutschnational gefärbten Kitsch in Form uraler Gemälde, Kuckucksuhren und Massenkitsch wie Fackelzüge und Reichsparteitagen.

Echter Schund und Spießbürgerkitsch basieren auf der Grundlage nicht nur eines Ideals, sondern auf die Zusammenfügung und damit Steigerung mehrerer Ideale, wie sie die Wirklichkeit nie zusammen brächte. Die Idylle ist eine Verdichtung verschiedener Archetypen aus der Rubrik des Schönen, Wahren und Guten. Die Idylle ist mehr als die Schönheit, welche nichts anderes zusein scheint als die Proportionsgesetze nach physikalischen Hebelgesetzen ob in Grashalmstrukturen oder Knochenlängen. So röhrt der Hirsch in jungfräulicher Morgendämmerung am klaren Bergsee zwischen deutschtümelnden Tannen. Kein Haus, keine Hochspannungsmasten Weit und Breit. Ein Bild von Reinheit, Potenz und Harmonie auf rund fünfzig überschaubaren Zentimetern.

Die Dorfkirche verdichtet das Ideal aller Dorfkirch-Assoziationen in einem Archetypen. Ziegeldach, Glocken - sowie Uhrenturm, Bogenfenster Bergwiese und Blumenkästen. Die Idealisierung ist durchgängig im alpenländischen Baustil dem eine starke deutsche Provenienz zuzuordnen ist und in den reinen ,strahlenden Farben sowie den offenen Fenstern und Türen. Die ungewöhnliche Addition von Blumenkästen verstärken den ideellen Naturaspekt. Mit ihrer Verkleinerung ins Niedliche bei gleichzeitiger Vergrößerung des Modellanlagen-Maßstabs verweist sie auf die Aura des Tüftlers und Bastlers mit seinen Hobbyambitionen und der damit verknüpften Weltsicht.



FFM und die Gruppenfalle

Schon in frühester Kindheit lockten mich meine Eltern ganz unbeabsichtigt und doch nachhaltig in die Gruppenfalle. Immer wieder schiebt sich ein Bild der Erinnerung aus längst vergangenen Tagen vor mein inneres Auge. Meine Eltern, haus-musizierend, mit Blockflöte und Gitarre im Wohnzimmer unter dem großformatigen, fast abstrakten Bild, das sie auf ihrer Hochzeitsreise in Paris erstanden hatten. Bildungsbürger eben. In diesem klischeehaften und für später kreative, typischen Familienidyll, ist auch im Hintergrund so zumindest in meiner Erinnerung, ein Kunstdruck von Wassily Kandinsky zu sehen. Improvisation von 1913. Er hängt noch heute bescheiden neben dem großen fast abstrakten Franzosen. Beide Bilder sagten jedem beim betreten des Raumes, sofort, dass hier die Modernität und der Avantgardismus untrennbar zum Katechismus seiner Bewohner gehörte. Kam Besuch, kreisten die Gespräche oft um das so augenfällige Pariser Mitbringsel, dabei wurde auf höfliches Nachfragen der Gäste, der Kandinsky mit der Erklärung:“...der unter anderem die Blauen Reiter begründete“, in den Bedeutungs-Bildungskanon miteingereiht. Seine Wichtigkeit aber war die Gründung einer Gruppe und das schien viel bedeutender, wie die genauso legitime Erklärung, als Begründer der gegenstandslosen Malerei zu gelten. Mir war als Kind schon klar, und das las ich zwischen den Zeilen, das gründen einer Gruppe ist glorios und postuliert im Gegensatz zur bloßen Teilnahme an einer Gruppe, geistige Vaterschaft. Nach Konrad Lorenz müsste man ihn als Alpha-Wolf, oder zumindest als oben in der Hack-Hierarchie betiteln. Was damals in der Ausführung meiner Eltern über die „Blauen Reiter“, mitschwang, war die eigene Selbstdarstellung als Kunstkenner. Das heißt, als Punkt zwei der Missverständnisse: “Wer die Gruppe kennt, die Namen und Werke ihrer Mitglieder, bewegt sich souverän zwischen den schroffen Klippen der Kunstgeschichte und reiht sich ein in die Schar der Insider und Connaisseure“. Getopt wurde das bürgerliche Understatement, von dem kleinen: “unter Anderem, den Blauen Reiter begründet“. Die Urheber solcher Sätze stehen auf einsamen Berggipfeln, unter sich das Panorama schneebedeckter Kunsthöhen, wie: “Phalanx“ (ein Zweitausender) die erste Gruppe Kandinskys, gegründet während des Kunststudiums in München. 1909 gründete er die Neue Künstlervereinigung München. Nach dem Blauen Reiter (mindestens Mont Blanc) kann man ihn als Mitbegründer des Bauhauses in Weimar nennen. Dort ruft er die Blauen-Vier ins Leben. Kandinsky war ein ausgesprochenes Gruppentier.

Fazit für mich blieb:

Wer eine Gruppe begründet ist geistiger Potentat und hat ergo Gefolgschaft.

Wer eine Gruppe und ihre Mitglieder kennt, ist Insider, Kenner und am allgemeinen Diskurs beteiligt.

Wer gleich mehrere Gruppen gründet, vernetzt sich im Kunstgeschichtlichen Raum und multipliziert sich im Markt und beim Publikum.

1980 eröffnet Paul Maenz in Köln die Ausstellung: “„Mülheimer Freiheit“ und interessante Bilder aus Deutschland“. Am Titel der Show sind zwei Aspekte bemerkenswert. Die Betonung auf Deutschland, denn die damalige Kunstströmung hieß auf amerikanisch action und minimal oder war italienische arte povera beziehungsweise transavanguardia. Das Zweite ist die Gruppe, die all das Neue und Wilde, das noch nicht Neue Wilde hieß, in sich vereinte. Klaus Honnef schreibt: „Eigentlich stimmte nichts an der Ausstellung, deren alleiniges Programm darin bestand, keines zu verkünden. Schon der Titel deutet es an. Was unter dem eingängigen Markenzeichen. „Mülheimer Freiheit“ den Eindruck einer verschworenen Künstlergemeinschaft nach dem Vorbild der „Brücke“ erweckte, war lediglich der pragmatische Zusammenschluss einer Gruppe von Künstlern, denen es gelungen war, in einem Vorort der Stadt Köln, eine aufgelassene Werkstatthalle als Großatelier anzumieten“. Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Künstlerformationen, „Zero“ oder „Null“, deren Arbeit ein deutliches Konzept, respektive eine eigene Kunstanschauung zugrunde lag und deren Werk man unter einen Stilbegriff ordnen konnte, erfüllte die „Mülheimer Freiheit“ in keiner Weise die Erwartung von gleichen Inhalten oder stilistisch identischer Malweise. Sie repräsentierten als erste in den Achtzigerjahren, der Ära des Designs und der gesellschaftlichen Ökonomisierung alle Parameter eines sogenannten „Label“. Ein Begriff, engverbunden mit einem Image, seiner Verknüpfdung mit Werten und einer entsprechenden Zielgruppe. Was auch immer unter dieser Headline firmiert, erfüllt die definierten Bedeutungs-Oberbegriffe. Diese Tendenz gipfelte in der Modeerscheinung, sich als Künstler oder Künstlergruppe mit den Attributen einer Firma, eines Betriebsbüros, bis hin zu einer wissenschaftlichen Anstalt, oder als Labor, in der Öffentlichkeit darzustellen. Gerade um die Jahrtausendwende, als der ökonomische Druck für viele, vor allem junge Künstler sich zu einer echten Existenzfrage steigerte, war die Reaktion in der Gründung fingierter Firmen oder Unternehmen zu finden, was natürlich eine reale Existenzgrundlage nur in der äußeren Erscheinung und seinem Nimbus suggerierte. Eine weitere Möglichkeit der Kompetenz-Darstellung wurde, ungezwungen, die des Teams, martialisch die der Truppe, spielerisch die Mannschaft, letztendlich aber immer die Gruppe. Sicherlich war auch das Gruppengefühl der wilden Künstler eng mit ihren musikalischen Vorbildern, den Rock und später den Punk und Welle-Bands verbunden. Erstrebenswert, nachahmbar, ist der Personenkult, das Stardasein, die Fans, der Mythos. Doch die Mechanismen des künstlich erzeugten Image, des Labels waren auch im Rock bereits bekannt und erprobt, durch Retortenbands wie The Monkeys oder die Cartidge Family, die für eine amerikanische Abendserie zusammengestellt wurden. So wie Jeff Koons in den Achtzigern, das was er als Werk signierte ganz wo anders schnitzen oder malen ließ, sangen die Lieder von Bohlens Band: „Nilly-Vanilly“ ganz andere Sänger als die, die wir als Fans im Fernsehen anbeten durften.

Fazit: selbstverständlich muss das Werk der Gruppe auch nicht mehr das Werk der Gruppe sein.

Ich bin natürlich auch gleich wieder in die Gruppenfalle gelaufen. „Ob ich die Filderbahnfreunde kenne“? Da kann man nicht so einfach ja sagen und dann „La Paloma“ pfeifen... Fragen nach Gruppen, das kennen wir spätestens seit die boygroups in der Bravo ausgebreitet wurden, Joe, Brad, Kent, Bob, beinhalten stringent die Nachfragen nach deren Einzelteilen, also den Personen die das Ganze zur Gruppe fügen. Will man auf dem Laufenden sein, so muss man zumindest über die Primärpunkte wie Mitglieder, Stilrichtung und Konzept informiert sein. Au Scheiße, da ist es schon wieder, selbstredend habe ich ein Konzept vorrausgesetzt.. Dazu kommt, einen Gruppennamen merkt man sich auch viel besser. Es ist schon schwer genug die Richters und Weitzäckers, die Oehlen und die Nicolais auseinander zu halten. Da sind noch weitere Vorzüge einer Gruppenbildung. Auch schon der Name, die Filderbahnfreunde, man denkt sofort an pfiffige Jungs die engagiert nach Feierabend in langwieriger Handarbeit alte Dampfloks, egal welcher Spurweite, wieder betriebsbereit machen. Frauen bringen von Zuhause Maultaschen Peitschenstecken und Bauernbrot. Sie dürfen dafür auch schon mal die Pleulstangen vom angeranzten Fett befreien. Das alles geschieht in der bodenständigen süddeutschen Provinz. Man will gar nicht hinunter ins Städtle oder schielt gar sehnsüchtig auf die Ruhm verheißenden Metropolen anderenorts. O.K. ,das sind Klischees absichtliche Klischees, man kann es auch Primär-Assoziationen nennen. Die Filderbahnfreund wählen bewusst einen Namen der tugendhaften Fleiß nach Feierabend verspricht und ganz und gar nicht wilde, verruchte Avantgarde. Versteckt sich dahinter nur Ironie oder ist diese Mimikry Programm? Die Filderbahnfreunde fingieren eine Künstlerpersönlichkeit, erfinden ein ihm zuordenbares Werk, vielleicht sogar den dazugehörigen Charakter. Auf jeden fall ein Leben, wenn auch nur in Form eines verbindlichen Lebenslaufes. Friedrich Fuhrmann fungiert als der offensichtlich Mutige, den man vorschickt. Einer, der jede Beschädigung in Form von Kritik oder aufgrund von Vermittlungs-Mißverständnissen wegsteckt. Er ist ja virtuell, wie aus Strahlengummi. Eine Lara Croft der Kunst. Treffer, 40 points- minus. Repeat. Nur noch vier Leben. Legt sich Friedrich Fuhrmann flach, ist er umfunktioniert zur Bühne zur Projektionsfläche der Handlung. Ein sowohl flexibler, wie resistenter Typ, der Fuhrmann, einfach knuffig. Doch Spaß beiseite. Bei aller Erweiterung des künstlerischen Aktionsraumes, den die Gruppe mit sich bringt, bei aller Potenzierung von Begabung gesellschaftlicher Verbindung und Reputation, ist der damit erkaufte Karrierevorteil ein harter Deal. Der Postkapitalismus offenbart in jeder Branche die Gesetzmäßigkeit im Verhältnis von Einsatz zu Gewinn. Lange Ausbildungszeit bei damit verbundenem Einkommensverzicht führt zu hoher Qualifizierung bei adäquater Vergütung. Der Verzicht auf eine Bildungshierarchie, vom Lehrkünstler zum Chefkünstler, jeder ist ein Künstler, bei gleichzeitiger tariflicher Absicherung ist nicht. Eher gleicht die Kunst einem Lottospiel. Lange dran bleiben immer die gleichen zahlen spielen vielleicht mal den Hauptgewinn. Die Filderbahnfreunde spielen jetzt Systemlotto. Als Kehrseite der Medaille versagt, oder reduziert zumindest die Gruppenmitgliedschaft die Chancen auf die Solokarriere. Die eigene Profilschärfung weicht dem Gruppenkonsens. Was die spätkapitalistische Gesellschaft sonst noch für die Gruppe aushandelt bliebe zu hinterfragen. Für die Vorteile des schnell wachsenden Bekanntheitsgrades bei der gleichzeitigen selbstredenden Bonus für das angenommene, gruppenimmanente Konzept, verlangt die Kunstordinanz auch die Erfüllung ihrer geweckten Erwartungen. Wenn ich als Insider, eine Gruppe propagiere, möchte ich mit Ihrem, (als mein Erfolg) ich hab’s ja von Anfang an gewusst, belohnt werden. Das entgegengebrachte Vertrauen ist hoch, um so mehr, da die Filderbahnfreunde schon im Namen Nähe, Tugendhaftigkeit und Leistungsbereitschaft gepaart mit positiver Provenienz, manifestieren. Wer sich als Rockband aufstellt muss live auch den „groove“ rüberbringen, muss entertainen, muss immer alles geben. Die Filderbahnfreunde sind dran. Applaus.



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